Die Debatte vom Wochenende ist unter uns überfällig. Aber sie muss etwas ausführlicher und stärker analytisch geführt werden. Bevor wir für oder gegen die Pride-Parade eifern, bevor wir gegen einen Fetisch losgehen, sollten wir erst wissen, worum es eigentlich geht. An diesem Thema können wir – einmal mehr – die ganze Entwicklung der letzten 50 Jahre nachvollziehen.
Homosexuelle, immer inklusive Lesben (aber dazu noch eine Bemerkung), hatten es in den 1970ern noch schwer. Zwar: Schon 1971 war in Österreich die Strafbarkeit gefallen. Aber leicht diskriminierende Bestimmungen gab es noch über mehrere Jahrzehnte hinweg, man denke an das sogenannte Schutzalter. In der Gesellschaft allerdings war der Homo wenig akzeptiert. Aber Achtung! Es ist ein himmelhoher Unterschied, ob es eine Strafbarkeit gibt, ob somit politische Unterdrückung und Repression mit Hilfe des Staats herrscht. Oder ob einzelne Segmente der Gesellschaft sich gegen ein bestimmtes Verhalten stellen. Das ist ihr gutes Recht. Es ist auch mein gutes Recht, mich über die Beschränktheit fundamentalistischer Katholiken zu alterieren oder mich über ihre Höllen-Angst lustig zu machen.
Nur nebenbei: Lesben waren seit Langem beinahe schon akzeptiert. Das war leichte, weil man die weibliche Sexualität im Wesentlichen ausblendete und nicht zur Kenntnis nahm.
Auf dem kurzen Weg in die privilegierten Institutionen entdeckten dann ehemalige „68er“ das Thema für sich. Sexuelle Minderheiten wurden modern; vielmehr postmodern. Bis hierher ist nicht viel dazu zu sagen.
Die beruflich und politisch ambitionierten neuen Gruppen hielten ihren Aufstand gegen ihre Eltern für revolutionär, nannten sich links, manche gar marxistisch. Sie waren auf der Suche nach Hilfstruppen für ihren Aufstieg in die bürokratischen und herrschenden Schichten. Dabei entdeckten sie auch die sexuellen Minderheiten.
Damit aber änderte sich die Lage fundamental.
Überspringen wir die Jahre des politischen und bürokratischen Infight! Das Ergebnis ist:
Der Komplex der Homosexualität wurde mittlerweile ausgeweitet zu „LBG…+++“. Und das wurde nun um Schlachtross der „Links“-Liberalen. Damit aber hat sich eine früher diskriminierte Minderheit zu einer Gruppe verwandelt, welche einen Herrschaftsanspruch stellt und in nicht geringem Maß auch durchsetzt. Von einer politischen Diskriminierung kann keine Rede mehr sein, im Gegenteil. Es geht in keiner Weise mehr um einen Protest gegen eine Benachteiligung. Wie auch? Hinter der Pride-Parade und vor allem ihren Organisatoren steht die geballte Staatsmacht. Das supranationale Imperium, die EU, unterstützt sie mit allen ihren Mitteln, und die meisten nationalen europäischen Regierungen auch. Denn dahinter steht die Klasse, welche die Massenbasis dieser Regierungen ist und diese trägt: die Oberen Mittelschichten.
Hier sehen sie die Chance, unter dem Deckmäntelchen des Minderheitenschutzes, des Schutzes gegen Diskriminierung, den Menschen wieder zu sagen, wo es lang geht. Dieser Kulturkampf wurde so zum Disziplinierungs-Programm, im Wesentlichen gegen die Unterschichten gerichtet, die mit dieser Richtung nicht mitgehen wollen. Das ist nur eine weitere Komponente im allgemeinen Programm der Eliten-Politik des Autoritarismus. Damit ist es das Gegenteil von dem, was sie nach Außen proklamieren, nämlich „Liberalismus“ (etwa i. S. des John Rawls).
Sollen wir uns also dagegen stellen?
Das hieße, den Eliten in die Falle gehen. Mit solchen Kulturkämpfen geben sie die Konfliktlinien vor, die ihnen gefällt und ihnen richtig erscheint. Sie sollen auch von anderen, grundlegenderen und weniger instrumentalisierbaren Konfliktlinien ablenken, von der Vergrößerung der Ungleichheit etwa, der Konzentration der materiellen Ressourcen oben, der Entdemokatisierung, usw.
Es wäre wirklich politischer Unsinn, auf den Konflikt zwischen Orban und dem Budapester Bürgermeister einzusteigen. Sicher: Orban geriert sich immer wieder als Kämpfer für die nationale Selbstbestimmung und gegen die Übergriffigkeit der Brüsseler Bürokratie. Aber wenn es darauf ankommt, dann knickte er bisher immer ein und steht eine Auseinandersetzung nie durch. Und sich auf die Seite des EU-hörigen Bürgermeisters zu stellen – darüber erübrigt sich sowieso jedes Wort. Dieser Konflikt geht uns an diesem Thema nichts an! Diese angeblichen Eliten-Gegner sind es nicht. Damit wollen die Eliten bloß die Menschen in Reih und Glied bringen. Auf so was darf man sich niemals einlassen. Selbst taktisch wäre dies vollkommen verfehlt.
Zu den Themen, die damit verbunden sind, wäre viel zu sagen. Sie wurden zu einem logischen Komplex zusammengefügt, von den Ideologen der Eliten und von ihren journalistischen Sprechern. Sie stellen somit eine runde Ideologie der Eliten dar, nicht zuletzt mit ihren Auslassungen, nämlich dem Klassen-Aspekt.
Nur wenige Schlagworte.
„Geschlecht“ und „Natur“? In der akademischen Blase ist seit zwei Jahrzehnten ein Konstrukt verpflichtend: der „Konstruktivismus“. Trivial gesagt: Die Realität und insbesondere die soziale Realität gibt es gar nicht. Das sind alles „nur Konzepte“, nur „Konstrukte“. Neu ist dies ja nicht. Schon Maggie Thatcher hat dekretiert: „There is no such thing as a society.“ – Vor einigen Jahrzehnten hat Sebastiano Timpanaro (“Sul materialismo”) darauf hingewiesen: Als Wesen der Natur und Angehörige dieser Welt können wir unsere natürlichen Grundlagen nicht verlassen. Wir können sie lediglich kulturell (ideell, „idealistisch“, ideologisch) ständig neu formulieren, sie von einer historischen Epoche zur anderen in neuen Konzepten fassbar machen, die manchmal treffender sind, manchmal auch nicht, im Idealfall eine langsame Verbesserung und gründlichere Kenntnis der Welt erreichen.
Vergessen wir nicht: Dieselben Leute, welche am liebsten jeden Blick auf eine attraktive Person als sexuelle Belästigung verbieten möchten, können sich vor Begeisterung über das „freie Verhalten“ bei der Parade nicht einkriegen. Und der Kult der Hässlichkeit und der Obszönität paart sich seltsam mit der neuen Prüderie sonst im Namen des Kinderschutzes. Diese Ästhetik des Hässlichen hat wiederum vor allem eine antiplebeische Zielrichtung, präsentiert von Lumpen-Plebeiern auf der Parade. Die Unterschichten und Unteren Mittelschichten sollen sich an die Vorgaben der Oberen Mittelschichten halten, auch wenn sie sie verabscheuen. Soll heißen: Ihr seid so was von gestern, wenn Euch das nicht gefällt! Ossi Wiener beteiligte sich im Mai 1968 an der Hörsaalscheißerei; bald danach veröffentlichte er ein esoterisches Büchlein („Die Verbesserung von Mitteleuropa“), das überhaupt nur für versponnene Germanisten lesbar ist.
„Minderheitenschutz“? Wenn es um politische Minderheiten geht, gibt es den längst nicht mehr. Und diese Minderheiten sind meist auch devot geworden und akzeptieren das gern. 1976 schrieb Kladivo, eine slowenische Zeitschrift, noch einen Artikel: „Wir Kärntner Slowenen sind eine nationale Minderheit, keine Sprach-Minderheit.“ Das würde heute niemand mehr dort zu sagen wagen. Und wer weiß: Vielleicht würde es auch verboten. Immerhin hat ein heutiger Oberrichter, damals Verfassungsdienst-Chef (Hesse 2013) bereits vor eineinhalb Jahrzehnten offiziell deklariert: Wir wollen in Österreich keine politischen Minderheiten, und wir haben auch keine.
Im Kampf um die Hegemonie sollten sich Oppositionelle nie auf die Begriffe der Eliten einlassen. Und jetzt, wo wir in einer offenen Hegemoniekrise leben, erst recht nicht.