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Zum Ausweg aus der Identitätspolitik

Seit Jahren wird der Vorwurf der „Identitätspolitik“ lauter. Er richtet sich typischerweise gegen Gruppen die sich als links verstehen und subjektive Identitätskonstrukte in den Vordergrund stellen. Im Fall der rechten „Identitären Bewegung“ ist der Bezug auf die Identität sogar expliziter Teil der Selbstbezeichnung. Weniger häufig ist der Begriff „linksidentitär“, durch den nun (beabsichtigt oder nicht) auch die „linke“ Identität selbst in den Vordergrund gestellt wird. Das es so etwas wie Selbstinszenierung und eine übermäßige Betonung der Identität gibt steht außer Frage. Was uns eine prinzipielle Kritik an der Identitätspolitik mitteilen soll ist allerdings etwa so schwer zu Begreifen wie eine prinzipielle Kritik an Autorität. Sowohl Identitäten als auch der Umgang mit Autoritäten sind schließlich Teil der psychischen und sozialen Erfahrung des Menschen, ob man das nun schön findet oder nicht.

 

Identität und Autorität

Um sich in seiner Umwelt zurecht zu finden braucht der Mensch notwendigerweise verlässliche Orientierungspunkte. Menschen müssen sich selbst erkennen, in Beziehung zu ihrer (sozialen) Umgebung setzen und daher Vorbilder und Autoritäten identifizieren. Aufgrund der Komplexität der Arbeitsteilung ist es für den einzelnen Menschen in der modernen Gesellschaft kaum möglich sich auf der Grundlage eigener Erfahrungen einen Überblick über den Produktionsprozess zu verschaffen. Ein gutes Leben setzt die Koordination mit immer mehr anderen Menschen voraus.  verhältnismäßig starke ausgeprägte Autoritäten präsentieren uns durch den stark zentralisieren medial-kulturellen Apparat klare Vorbilder und Identifikationsangebote, oder weisen uns direkt zurecht. Noch in der Ära des „Kalten Krieges“, also bis 1989,  stellten das Weiße Haus in Washington und der Kremel in Moskau zwei globale Autoritäten dar, die auf militärischer, ökonomischer und ideologischer Ebene intensiv miteinander konkurrierten.

Seit dem sogenannten „Ende der Geschichte“ steht allerdings weniger die klassische (Haus-)Machtpolitik im Vordergrund, vielmehr zeigte sich – und das ist das bemerkenswerte – eine neue identitätspolitische Dynamik im Westen. Gegenstand der Politik ist also nicht mehr die Autorität der Herrschenden, sondern die Identität der beherrschten. Im Zentrum steht nicht die Legitimität der Elite die sich durch allgemeinverständliche Vernunft zu beweisen hätte sondern vielmehr die persönliche Identität, die im Rahmen des „demokratischen“ Systems gefunden werden muss. Es wird zur Aufgabe des Volkes gemacht den Sinn in seiner Erniedrigung und (Selbst-)Ausbeutung zu erkennen.[1]

Es entspricht dem Vorgehen der klassischen Rechten systematisch die Identifikation des Volks mit seinen nationalen Unterdrückern und Ausbeutern herzustellen. Loyalität und Gehorsam werden durch das der korrekten religiösen bzw. kulturellen Identität entsprechende Verhalten eingefordert. Demgegenüber bedeutete Internationalismus im Lager des Sozialismus nationale Organisationen miteinander zu vernetzen, sich über gemeinsame Probleme auszutauschen und auf diese weise Solidarität zwischen den Völkern herzustellen. Mit der Ära der Globalisierung wurde ein Großteil der klassische internationalistische Strukturen zerschlagen oder sie verloren ihre Finanzierung. Zwar ist der Internationalismus nach wie vor als Phrase verbreitet, doch wurde er in der politischen Praxis großteils durch neoliberalen Kosmopolitismus (Weltenbürgertum) ersetzt. Der Kosmopolitismus erscheint dabei – anders als der klassische Internationalismus – ganz unverbindlich. Kosmopolit kann im Grunde – scheinbar unabhängig vom politischen Lager –  jeder sein der sich als solcher fühlt. Ganz im Gegenteil wird sogar die Befreiung des Individuum von seinen sozialen Verpflichtungen versprochen. Gleichzeitig bestehen mit der NATO, dem Internationalen Währungsfond, der Europäischen Union oder bspw. der Weltgesundheitsorganisation, konkrete bestimmende globale Autoritäten, die ökonomische, ideologische und militärische Macht ausüben. Keine dieser globalen Institutionen kann als besonders volksnahe bzw. demokratisch gelten. Doch im Rahmen des neoliberalen Kosmopolitismus wird die Unterordnung unter diese Institutionen weitgehend als (zivilisatorischer) Fortschritt wahrgenommen. Angesichts der Bürokratie der liberalistischen Gewaltenteilung muss  keine Autorität alleine die Verantwortung für die Richtungsentscheidung übernehmen. Solange die Autoritäten kollegial miteinander sind und einander gegenseitig bestätigen erscheint die Assoziation mit den einzelnen Institutionen optional und ihr autoritärer Charakter tritt in den Hintergrund.

 

Identitätspolitische Dynamik

Der Traum des Liberalismus der mit dem Ende des Kalten Krieges verwirklicht werden sollte, besteht darin, dass Individuum gänzlich von äußeren Einflüssen zu befreien und zu einem mündigen Vertragspartner zu machen. Dann sei nämlich jedes Individuum das innerhalb der von den kapitalistischen Eliten dominierten Gesellschaft (über)leben will für die Probleme des Systems  mitverantwortlich. Im Vordergrund stehen dabei heute Sexismus und Rassismus (sowie Umweltschäden). Das unlösbare innerliberale Dilemma besteht darin, dass das Versprechen, das Individuum könne es durch Leistung zu etwas bringen (Meritokratie), fundamental unvereinbar ist mit der Rechtfertigung der vererbten Privillegien der wirtschaftlichen Eliten. Im Streit zwischen Links- und Nationalliberalen, zwischen karrieristischen Emporkömlingen und korrupten Dynastien wird das Volk also andauernd vor das falsche Dilemma gestellt, ob es sich mit der Macht der Herrschenden und ihrem vielfältigen Staatsapperat identifiziert, oder mit dem speziellen Ohnmachtsgefühl dieser oder jener diskriminierten Gruppe, der der Aufstieg in die Ausbeuter*Innenklasse verwehrt bleibt.[2]

Die Rede von den „skurrilen Minderheiten“ (Sahra Wagenknecht) drückt die zunehmende Herausforderung aus zwischen Parodien, Kunstprojekten, dem persönlichen Ausdruck von Befindlichkeit und tatsächlichen politisches Anliegen zu unterscheiden. Dabei ist nur konsequent  die grenzenlose individuelle Befreiung welche die Herrschenden versprochen und als Fortschritt gefeiert haben einzufordern. Gerade an dieser Stelle muss allerdings die Wechselwirkung zwischen Identität und Autorität  betont werden. Denn subjektive Erfahrungen werden eben nie ganz für sich selbst stehen gelassen. Nicht nur die Kirche sondern auch die moderne Wissenschaft nehmen bspw. hinsichtlich der menschlichen Geschlechtlichkeit notwendigerweise eine intersubjektive Kategorisierung und Beurteilung vor. Der zur „Minderheit“ gemachte Mensch wird in diesem Vorgang nicht emanzipiert sondern marginalisiert. Auch der Kampf um die Anerkennung der „Minderheit“ kann das subjektive Empfinden des Individuums nur insofern artikulieren, als es mit der Parteidisziplin der „Minderheit“ vereinbar ist. Mehr oder weniger universelle menschliche Erfahrungen und Herausforderungen – insbesondere das Leben mit Geschlechter-Steriotypen – werden zum Wesensmerkmal dieser oder jener (exklusiven) Gruppe erklärt. Die persönliche, notwendigerweise psychologische Beziehung zum eigenen Körper bzw. den eigenen Erfahrungen wird dabei (insbesondere durch Bekenntnisformeln) systematisch politisiert. Mischt sich die politisch-kulturelle Autorität ein, egal wie „queer“ sie sich gebärden mag, so urteilt sie über anerkannte und nicht-anerkannte, respektable und nicht-respektable Lebensentwürfe bzw. Identitätskonstrukte.

Das Individuum das sich auf demütigende weise offenbaren muss wird nicht von der Beurteilung anderer befreit, sondern im Gegenteil dem öffentlichen Urteil unterworfen und unter die Schutzherrschaft von Partei oder Staat gestellt. Zweifellos erhöht die linksliberale Identitätspolitik das Bewusstsein für die alltägliche Diskriminierung bzw. Gewalt, die innerhalb der Zivilgesellschaft stattfindet. Unabhängig davon wie viele Menschen tatsächlich von dieser Gewalt betroffen sind, wird die Angst von der Politik mit maximaler Effizienz verwertet. Die Staatsgewalt erscheint dem durch polarisierende Identitäten vereinzelten und eingeschüchterten Individuum zumindest als ein bekanntes und verlässliches Übel.[3]

Der Orientierung an den parlamentarischen Autoritäten steht die Identifikation mit diversen, vermeintlich oder tatsächlich miteinander verwobenen Emanzipationsversprechen gegenüber. Besonders beeindruckend sind dabei Abkürzungen wie FLINT*, LGBTIQA* (manchmal auch FLIT*, FLINTA*, LGBT*, LGB*, LGBTINA*, LGTQ*, LSBT* oder LSTIQA*).[4]  Als Gegensatz zur Identitätspolitik wird typischerweise die sogenannte „Klassenpolitik“ vorgeschlagen. Dieser Gegenüberstellung liegt notwendigerweise die Erkenntnis zugrunde, dass die soziale Zugehörigkeit zu einer (ökonomischen) Klasse komplexer ist als ein kulturelles Identitätskonstrukt. Paradoxerweise ist es jedoch ein fixer Bestandteil der Identitätspolitik auch den Klassenbegriff auf diese Art (die Reduktion auf ein kulturelles Identitätskonstrukt) zu entstellen. Klassenkampf (die konkrete kollektive Verhandlung über die Höhe von Löhnen, Abgaben bzw. Eigentumsverhältnissen) wird systematisch mit „Klassismus" (Standesdünkel) verwechselt und mit Rassismus und Sexismus auf eine Stufe gestellt.[5]

In der Praxis lässt sich das Dilemma der Identitätspolitik nicht alleine durch die Gegenüberstellung der Klassenpolitik beheben. Vielmehr verschärft es sich, befeuert durch die bürgerliche Öffentlichkeit, noch weiter. Erst recht werden verschiedene Identitätskonstrukte gegeneinander ausgespielt, während der sachliche Kern der Konflikte verschleiert wird. Der Rassismus Vorwurf wird vom ursächlichen Gegensatz zwischen Imperialismus und unterdrückten Völkern bzw. den konkreten Ausbeutungsverhältnissen entkoppelt.[6] Stattdessen gelten Sexismus, Homophobie und Rassismus den Liberalen heute als ein im Volk verbreiteter Aberglaube den sie durch (ideologische) Bildung beheben könnten. Im schlimmsten Fall werden hierdurch sogar imperialistische Kriege und jahrzehntelange Besatzungen (Afghanistan) als eine Art Zivilisationsmission entschuldigt.

 

Linke Auswege?

Angesichts dieser (intersektionalistischen) Herausforderung kann eine spontanistisch-empatische Linke, die formale Lehrautoritäten ablehnt und daher keine bewusste theoretische Grundlage hat um zu entscheiden was in ihrem politischen Interesse ist, bestenfalls versuchen die verschiedenen Emanzipationsbestrebungen hinter einer gemeinsamen linken Identität und einem gemeinsamen rechten Feindbild zu vereinen. Umso erfolgreicher das gelingt, umso mehr ist das Ergebnis eine prinzipienlose Einheit die einem vagen und unwiderlegbaren Versprechen auf die Erfüllung persönlicher Hoffnungen folgt.[7]

Die klassische autoritäre Linke kann diese strategische Sackgasse für sich selbst zurückweisen. Sie steht jedoch andauernd vor dem Dilemma wie sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung links des Linksliberalismus positionieren kann, ohne dabei zu seinem Steigbügelhalter zu werden. Um gegenüber der Zivilgesellschaft und sich selbst als waschechte Linke zu gelten ist es notwendig die linke Tradition und Lehrautorität zur Schau zu stellen, aus der man das eigene Vorgehen ableitet. Das Ergebnis – so richtig es auch sein mag – ist dabei allerdings allzu oft eine kalte formell-bürokratische Argumentation.

Wie bereits Lenin feststellte werden die größten Revolutionäre zu Lebzeiten verfolgt und nach ihrem Tod als Götzen verehrt. Die verstärkte Identifikation mit den Doktrin einer klassischen Lehrautorität kann das Fehlen einer weltlichen linken Autorität in der Gegenwart (bei allem Respekt für den Kampf gegen die Armut kann das post-revolutionäre China kein Vorbild sein) nicht ausgleichen. Vielmehr bestätigt sich der Gegensatz zwischen jenem Teil des Volkes welcher das Vertrauen in die Herrschenden verloren hat, ihre Autorität in Frage stellt und rebellieren möchte und den diversen, mehr oder weniger in die zivilgesellschaftliche Seite des Staatsapparats eingebundenen, Lehrautoritäten die darüber urteilen was als richtige Art des Protests gilt.

„Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein!“ (Matthäus 5:37-40)

Persönliche Identitätskonstrukte und Sinnstiftung sind wichtig und richtig. Sie dürfen sich sogar je nach Situation spontan ändern und müssen als Eigenverantwortung des Individuums respektiert werden. Für die moralische Autorität der Linken und die Abgrenzung vom Liberalismus ist der Fokus auf unbeständige und fluide Identitäten jedoch eine absolute Katastrophe. Während persönlicher künstlerischer Ausdruck von Uneindeutigkeit und Spontanität lebt, ist der bewusste Umgang mit konkreten autoritären Orientierungspunkten absolut notwendig um ein politisch-emanzipatorisches Ziel zu fassen und beständig zu verfolgen.

Für die Befreiung ist es weniger entscheidend auf welche Ikonen jemand schwört oder welchen Klassiker jemand zitiert. Es geht nicht um die Farbe der Zügel sondern darum ihre Länge auszutesten und sie allgemein sichtbar zu machen. Doch niemand ist alleine dazu imstande. Die unbewusste-spontane Rebellion kann weder dem normativen Vorbild der Herrschenden noch dem offenen Staatsterror etwas entgegensetzen. Wichtig ist daher, dass das sozialrevolutionäre Argument eine überzeugende und anwendbare Orientierungshilfe für den gegenwärtigen Alltag darstellt und die Einheit von Theorie und Praxis in einem organisatorischen Rahmen hergestellt werden kann. Deshalb muss eine emanzipatorische Bewegung für sich selbst stehende revolutionär-demokratische Organisationen aufbauen. Es geht also darum statt der Identität des Volkes, die Macht des Volkes zum Gegenstand der Politik zu machen.[8]

[1]     Isolde Charim, Die Qualen des Narzissmus: Über freiwillige Unterwerfung (Wien 2022).

[2]     https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/liberaler-antirassismus-oft-nicht-mehr-als-moralische-selbstvergewisserung Weiterführende Literatur: Immanuel Wallerstein, Ideologische Spannungsverhältnisse im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus und Rassismus. In: Immanuel Wallerstein und Etienne Baibar, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (Hamburg-Berlin 1992) 39-48.

[3]     Rainer Mausfeld: Warum Schweigen die Lämmer https://www.youtube.com/watch?v=-kLzmatet8w

[4]     https://kritische-maennlichkeit.de/glossar/flint-lgbtiqa-usw/

[5]     https://www.loewenzahn.at/magazin/oekofeminismus/

[6]     https://lowerclassmag.com/2021/05/04/race-klasse-und-identitaetspolitik/ Weiterführende Literatur: Immanuel Wallerstein, Die Konstruktion von Völkern: Rassissmus, Nationalismus, Ethnizität. In: Immanuel Wallerstein und Etienne Baibar, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (Hamburg-Berlin 1992) 87-106.

[7]     „Many struggles, one fight“: https://vsstoe.at/

[8]     Vijay Prashad - What is the Meaning of the Left?: https://www.youtube.com/watch?v=M-frUMXKcEw