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Multipolare und gerechte Weltordnung

Im Streit um die Krim, den Donbas und Taiwan, insbesondere mit der laufenden Eskalation des Ukraine-Krieges, wird die militärische Seite der Staatsmacht auch in der westlichen Wahrnehmung offen und zunehmend ungeschönt ins Zentrum gestellt.

Trotz allen völkerrechtlichen Geübten, entgegen rechtsstaatlichen Eiden der Neutralität und dem Versprechen der Europäischen Union als ein großes Friedensprojekt, werden nun doch die militärische Mobilmachung und die Kampfdisziplin als die entscheidenden politischen Faktoren erkannt. Die militärische Herausforderung des NATO Blocks durch die Regionalmacht Russland wirft die Debatte: unipolare oder multipolare Weltordnung, auf.

Seitens der USA, die ihren Führungsanspruch, ihr globales Gewaltmonopol und ihre moralische Autorität bedroht sieht, wird politischer Druck aufgebaut gegenüber Russland Handelsbarrieren zu verhängen, selbst dann wenn diese desaströs für die jeweiligen Nationalökonomien sind. Das ist besonders skurril im Fall der – nicht gerade hilflosen –  BRD welche die Förderung von russischem Gas gerade rechtzeitig zur Fertigstellung der kostspieligen Pipeline Nord Stream 2 zugunsten des us-amerikanischen Handelspartners (Frackinggas) verwarf. Mit Japan, Australien und Indien (Quadrilateral Security Dialogue) hält die USA Militärübungen ab und bereitet sich auf einen Konflikt mit dem aufsteigenden China vor, das seine nach wie vor bestehenden völkerrechtlichen Ansprüche auf die Insel Taiwan zunehmend selbstbewusst ausdrückt.

Von weiteren Sanktionen gegen Russland wollte aber zunächst selbst die indische Regierung nichts hören. Da sich das US-Imperium und die NATO durch diverse militärische Operationen über die Jahre einige Feinde gemacht haben sind sie damit keineswegs alleine in der Welt. Doch bisher waren die wenigsten Völker in einer Position aus der Defensive heraus zu kommen. Der reaktionäre afghanische Widerstand forderte – auch wenn er schlussendlich siegreich war – beständige Opfer erzielte aber nur bescheidene Erfolge und hatte schließlich in gewisser Weise doch eine Unterordnung nämlich unter China zu Folge.

So klar die Fronten sein mögen, so unklar ist worum gekämpft wird. Niemand kann in die Zukunft blicken. Die Frage was für eine Multipolarität und was darüber hinaus für eine gerechte Weltordnung erreicht werden kann, lässt sich also höchstens anhand bisheriger Erfahrungen erahnen.

 

Gewaltmonopol: vom klassischen Weltreich zur Weltwirtschaft

Die Geschichte der Stadtstaaten aus deren Gewaltmonopol schließlich ein Imperium entstand, darunter auch das namens gebende „Imperium Romanum“, beginnt bereits lange vor unserer Zeitrechnung. Eine harte Grenze für die Ausdehnung eines Weltreichs stellten immer schon Infrastruktur und Kommunikationswege da. Dort wo die Befehle erst mit einer Verzögerung von mehren Wochen ankommen, ist das imperiale Gewaltmonopol meist abwesend. Die Produktion schriftlicher Texte, Schiffsflotten, Straßen, Karawansereien und Poststationen sind technische Mittel durch die sich eine Herrschaft über räumliche und soziale Grenzen hinweg auszudehnen ließ. Doch auch heute sind die administrativen Kapazitäten jeder Herrschaft – trotz Eisenbahn, Telefon, diversen parasozialen Interaktionsformen im Internet oder der Fernsteuerung, etwa von Drohnen –  endlich.[1]

Die Zentralmacht der erfolgreich expandierenden Reiche hat notwendigerweise immer mit lokalen (klassischerweise adeligen) Geschäftsträgern am Rand des Reiches zu kämpfen welche die herrschaftliche Gewalt lokal bzw. regional organisierten.[2] Rechtssicherheit und Faustrecht, Aufstieg und Stagnation, die ungleiche Entwicklung verschiedener Regionen, sie bedingen einander gewissermaßen. Klassische Imperien hatten eine notorisch hohe Nachfrage nach Sklaven. Wo es den (Stammes-)Eliten hingegen nicht möglich war ihr eigenes Imperium aufzurichten, entwickelte sich die Sklavenjagdt zu einem lukrativen Gewerbe (auf der Krim bis 1783, insbesondere in Teilen Afrikas auch im 19. Jahrhundert). Am Kaukasus wo die Entwicklungschancen schlecht waren verkauften die Menschen sogar ihre eigenen Kinder in die osmanische Sklaverei, in der Hoffnung sie könnten im Staatsdienst Karriere machen.[3] Auch heute sind Geflüchtete bzw. Armutsmigrantinnen und Migranten, die in den entwickelten urbanen Regionen als Bereicherung empfunden werden, Menschen die in ihren verwüsteten Herkunftsländern allermeistens fehlen.[4]

Eine Weltwirtschaft, die über das Territorium eines einzelnen Reiches hinaus geht, lässt sich hingegen von einem klassischen Weltreich unterscheiden.[5] Der letzte Versuch ein klassisches Weltreich in Europa zu errichten scheiterte mit dem überdehnten spanischen Reich im 16. Jahrhundert. Karl der 5., der habsburgische König von Spanien, erlangte 1530 (vom Papst) die römische Kaiserwürde. Doch nach jahrzehntelangen Kriegen zwischen Frankreich und Spanien hatten sich die Monarchen beider Reiche bis 1557 so hoch verschuldet, dass sie ohne nennenswerte militärische Erfolge vorweisen zu können, ihren Bankrott erklären mussten. Karl der 5. trat sogar zurück.[6]

Die europäischen Stadtstaaten und Handelshäuser (allen voran Florenz, Antwerpen und die augsburger Fugger) waren im 16. Jahrhundert die wichtigsten Geldgeber der imperialen Dynastien. Sie standen in keiner direkten Konkurrenz zu den Reichen sondern spielten ihr eigenes Spiel. Durch die Teilnahme an einem Tributsystem erkauften sie sich Zugang zu Märkten – sein es die portugiesischen und spanischen Reiche oder China – auf denen sie Profite erwirtschaften konnten. Mit Handelsinteressen im Sinn führten bürgerliche Kaufleute wie der Genuese Christoph Columbus selbst die kolonialen Expeditionen des spanischen Reiches an. Im Fall der augsburger Fugger war die politische Bindung an Karl den 5. und seine spezielle imperiale Großmacht Politik jedoch ausgesprochen eng.[7]

In historischer Extremform bedeutet Unipolarität, dass die Zentralmacht durch die Vergabe von exklusiven Gewerbelizenzen (Privilegien) in der Lage ist ihren Verbündeten zu einer Monopolstellung zu verhelfen – deren Konkurrenz also durch reine Staatsgewalt auszuschalten. Die Fugger bzw. die Stadt Augsburg verfügten insbesondere durch ihr politisches Bündnis mit der habsburgischen Herrschaft zwar über Wettbewerbsvorteile, in der Praxis war dieser aber nur dort wirkungsvoll wo die imperiale-habsburgische Autorität stark und respektiert war. Infolge des politischen Scheiterns der Habsburger entgingen den Fuggern bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts etwa 8 Millionen Rheinischen Gulden in Form von unbezahlten Schulden. Die anderen Städte und Gemeinden Oberdeutschlands, fern ab des imperialen Hofes, wollten sich ebenfalls politisches Gehör verschaffen und erhoben sich 1525 – wenn auch nicht gegen die Person des Kaisers so doch gegen unsittliche Wirtschaftsbeziehungen und den universalen Wahrheitsanspruch der römisch-katholischen Kirche.[8]

Die Rebellion gegen das schwache und überdehnte Weltreich setzte sich insbesondere in den Niederlanden fort. Dort fiel die spanisch-habsburgische Herrschaft bis 1576 in sich zusammen. Der Niedergang des spanischen Imperiums, riss auch das transatlantische Handelszentrum Antwerpen mit sich in den Abgrund. Als Sieger gingen gegen Ende des 16. Jahrhunderts schließlich die holländischen Kaufleute der Utrechter Union (Städtebund der nördlichen Niederlande) hervor. Ihre Strategie zielte anders als ein klassisches Weltreich nicht primär darauf Tributleistungen von der unterworfenen Völkerschaft zu erpressen, sondern durch Investitionen Profite zu erwirtschaften.[9]

Aus dieser Zielsetzung heraus – der endlosen Anhäufung von Kapital – kam es zur Gründung von Handelsgesellschaften wie der Ostindienkompanie und es entstand die Organisationsform der Aktiengesellschaft. Zweck dieser Gesellschaftsform ist es, die Allgemeinheit für die Risiken der großen Unternehmer (sei es ein Unglück zur See oder ein Aufstand) haften zu lassen. Diesem erweiterten Zweck der allgemeinen Haftung und der Instandhaltung der – für die Kapitalzirkulation notwendigen – Infrastruktur dient nun also der moderne Staat und seine Steuerpolitik.

Amsterdam, das zum neuen Umschlagplatz des transatlantischen Handels geworden war entwickelte sich parallel zum bedeutendsten europäischen Markt für Handelswaren und Kapital. Seinem Aufstieg lag eine expandiere Weltwirtschaft und ein System der globalen Arbeitsteilung zugrunde. Dieses umfasste eine Bandbreite von mehr und weniger unfreier Arbeitsverhältnissen, einschließlich des transatlantischen Sklavenhandels. Es setzte eine ungleiche Entwicklung zwischen den urbanen Kapitalzentren (insbesondere Nordwesteuropas) einerseits und feudalen Grundherrschaften, Stammesgesellschaften und Kolonien andererseits voraus und hatte eine eklatant ungleiche Lohnentwicklung zur Folge.[10]

Die holländischen Kaufleute wickelten ihre Handelsgeschäfte in einer Weltwirtschaft ab, die weit über jenen Raum hinaus reichte, über den die Republik der Vereinigten Niederlande in der frühen Neuzeit politische Kontrolle ausübte. Sie nutzten bestehende Herrschaftsstrukturen die ihnen Rechtssicherheiten geben und ihre Eigentumstitel garantieren konnten. In der handelspolitischen Praxis stieß das in Amsterdam entstehende globale Kapital trotzdem immer mehr an politische Grenzen. Gerade im Niedergang des 18. Jahrhundert, als der Hegemonie Zyklus der Niederlande sich dem Ende zuneigte, kam es darauf an ihren Handelsinteressen mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. Der stärker zentralisierte englische Staat erwies sich insbesondere hinsichtlich der Flottenpolitik als besser geeignet um die Interessen des zunehmend nach London abwandernden Kapitals in ein merkantilistisches System einzubinden und durchzusetzen.[11]

Gerade in diesem Zusammenhang ist es besonders bemerkenswert wie die Allgemeinheit für die Flottenpolitik, die kolonialen Abenteuer, die imperiale Infrastruktur und Administration zahlen muss, während es die Kapitalisten sind die damit ihre privaten Profite machen. Wenngleich der britische Staat bis heute eine globales Netzwerk von Inselstützpunkten unterhält so ist es insbesondere die USA die für ihr Unsummen verschlingendes Militärbudget bekannt ist und deren Militärbasen die ganze Welt umspannen.[12]

 

Multipolarität: gute alte Zeit, Übergangsphase oder Chance für Neuanfänge?

Die Hochphase der englischen Hegemonie im 19. Jahrhundert, jene Epoche aus der das Völkerrecht hervor ging, kann als eine Art multipolare Weltordnung verstanden werden. Diese bestand allerdings in erster Linie darin, dass sich die Großmächte bzw. die von ihnen anerkannten Gewaltmonopole und Tributsysteme die Welt untereinander aufteilten. Die gegenseitige Anerkennung der Souveränität zwischen jenen mehr oder weniger imperialen Reichen, die das moderne englische Staatsmodell nach und nach übernahmen, sprach den Nationen die nicht zum Verhandlungstisch eingeladen wurden die Souveränität allerdings ab. Das Weltsystem verlangt von einer nationalen Herrschaft, dass sie stark genug ist um das Privateigentum der transnational operierenden Kapitalisten zu garantieren und ihre Investition zu schützen bzw. die Haftung für ihre Verluste auf weite Teile der Bevölkerung zu übertragen. Wären alle Staatsmaschinerien gleich stark, hätten die Nationen die Möglichkeit dem globalen Kapital präzise protektionistische Grenzen zu setzen, um eine selbstbestimmte Entwicklung zu erzielen. Doch somit wäre die globale Arbeitsteilung blockiert und das Weltsystem würde zusammenbrechen.[13]

Die Kehrseite der Epoche der englischen Hegemonie war die sogenannte Kanonenbootpolitik. Sie stellte ein zentrales Mittel der transatlantischen Großmächte dar um ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele – beschönigt als Freihandel und Zivilisationsmission – zu erreichen. Im 20. und frühen 21. Jahrhundert, unter US-Hegemonie, sind Regime Change und Sanktionspolitik – insbesondere in Lateinamerika oder im dem Nahen Osten – übliche Praxis.[14]

Nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich konnte Großbritannien, das bis zum Aufstieg Deutschlands gegen Ende des 19. Jahrhundert in der Güterproduktion führend war, seine Vorherrschaft über die Welt militärisch und ökonomisch ausüben. Der Streit um die Rangordnung zwischen den imperialistischen Großmächten und die Aufteilung der Welt spitzte sich im frühen 20. Jahrhundert massiv zu. Historisch betrachtet erscheint die Multipolarität somit entweder als eine Phase der relativen Instabilität des Weltsystems, im Übergang von einem Hegemon – von einem Weltpolizisten – zum anderen, oder sie lässt sich als eine vergangene Epoche begreifen in der die Kapitalkonzentration und die Globalisierung noch nicht so weit fortgeschritten und der Staatsapparat noch weniger durchdringend und daher stärker auf nationale Bewegungen angewiesen war.

Im Kapitalismus der freien (atomistischen) Konkurrenz wie ihn Adam Smith beschrieb wird durch einen Prozess der Arbeitsteilung und Spezialisierung, unter der Voraussetzung des Abbaus von Marktschranken wie ständischen Privilegien und Handelsbarrieren die Bedingungen für Wachstum und Wohlstand geschaffen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Weltwirtschaft aber bereits soweit integriert, dass zunehmend nur die Produktion im größtmöglichen Maßstab mit laufenden Investitionen in technologische Erneuerung wettbewerbsfähig und in Folge profitabel bleiben konnte.[15] Die Bildung von monolithischen Konzernen bzw. (Rohstoff-)Kartellen, die den Finanzsektor mit der industriellen Investition verbinden und insbesondere durch personelle Überschneidungen in Aufsichtsräten enge Verbindungen in die Politik pflegen, geht dabei aus der Wettbewerbslogik hervor. Im staatskapitalistischen Korporatismus des 20. Jahrhundert – sei es faschistischer oder sozialdemokratischer Prägung – garantierte die Regierungsgewalt einen klar strukturierten nationalen Ordnungsrahmen.

Insbesondere seit der Wende (bzw. der unbestritten Vormachtstellung der USA) hingegen, sind Herrschaftsräume weniger eindeutig abgegrenzt. Andrea Komlosy vergleicht den Trend zur „Global Governance“ mit dem feudalen Rechtspluralismus, wo sich mehrere Herrschaftsinhaber mit überlappenden Territorien (bspw. kommunale Selbstverwaltung, weltliche und geistliche Herrschaft) die Macht teilten. „Was im Mittelalter der Adel und das Kaufmannskapital war, repräsentieren heute multinationale Großkonzerne, Banken und Kommandozentralen globaler Güterketten.“[16] Im Kontrast zur vormodernen Ständegesellschaft in welcher die Politik kulturelle Trennlinien tendenziell zwischen Gruppen zog die unterschiedliche Rollen innerhalb einer Gesellschaft erfüllten, werden solche Trennlinien im Rahmen der globalen Arbeitsteilung heute vermehrt aus der unterschiedlichen Spezialisierung und Entwicklung der Weltregionen hergeleitet.[17]

Die Erwerbsmöglichkeiten bzw. die Entwicklungsperspektiven engt das Regime der Globalen Arbeitsteilung in ländlichen Regionen, insbesondere aber im globalen Süden, ein oder sie gehen ganz verloren.[18] Dabei gehen politische Intervention und ökonomisches Diktat häufig Hand in Hand. Beispielweise müssen Hybrid Saatgut und Maschinenteile aus rein ökonomischem Zwang regelmäßig nachgekauft bzw. cash crops angebaut werden. Andererseits werden sogar Saatgut Sorten von politischer Seite als intellektuelles Eigentum anerkannt und ebenso wie Software und Patente zum Gegenstand von Lizenzhandel gemacht.

Das die reale Produktivität und die finanzökonomischen Machtverhältnisse zweierlei sind zeigt sich offen hinsichtlich der Finanzmärkte. Sie sind, begünstigt durch Deregulierung, in den letzten Jahren durch ihre ganz besondere Krisenanfälligkeit aufgefallen. Die bestehende Relevanz des sogenannten fiktiven Geldes das in der Wall Street gehandelt wird, scheint nicht zuletzt auch durch die militärischen und technologischen Kontrollmittel gedeckt über welche die USA verfügt. Von der ökonomischen Grundlage aus betrachtet ist demgegenüber China der einzig mögliche Kandidat um zukünftiger Hegemon des Weltsystems zu werden.[19]

Mit dem Kampf um die Rangordnung innerhalb des Weltsystems beginnt eine Phase der Destabilisierung in der sich offen konkurrierende Gewaltmonopole herausbilden. Bezeichnenderweise heißt es: „Niemand kann zwei Herren dienen“ (Lk 16:13). Die nationalen Eliten – die vor allem auf der Gewinnerseite stehen wollen – sind nun also hin und hergerissen zwischen den eng mit dem US-Gewaltmonopol verwobenen, globalen politischen Institutionen und jenen Emporkömmlingen, welche in der Opposition zur bestehenden Weltordnung eine Aufstiegschance sehen. Wenngleich die Globalisierung bzw. Monopolisierung ein höheres Niveau als jemals zuvor erreicht haben und die einzelnen Nationalstaaten legislative Kompetenzen an globale Institutionen abtreten – man denke an die Frage der internationalen Investitionsschutz Gerichte im Rahmen der Freihandelsabkommen CETA und TTIP aufkam – bedeutet das keineswegs einen Machtverlust für die staatliche Herrschaft an sich. So oder so braucht es Behörden, welche die jeweiligen Ordnungsvorstellungen in den Nationen vor Ort umsetzten.[20] Das nationale Banner wird seitens der Elite jedoch fast nur mehr dann hervor geholt, wenn sie versucht das Volk für die Durchsetzung ihrer globalen Wirtschaftsinteressen zu mobilisieren.[21]

Doch durch den selbstbewussten Eintritt der Volksmassen in die Politik, eröffnet gerade diese Mobilisierung punktuelle Chancen und Möglichkeiten im Sinn der Volkssouveränität. Dieses Potential zieht sich – auch wenn es bis heute nicht seine Vollendung gefunden hat – von der ersten französischen Nationalversammlung bis heute durch die ganze Moderne. Chinas Aufstieg selbst entsprang dem Wechselspiel zwischen nationaler Einheitsfront und Revolution, zwischen urbanem Standortwettbewerb und der Entwicklungsperspektive der Bauernvölker. Der kollektive Aufstieg innerhalb des Weltsystems steht dem Kampf für ein anderes System gegenüber. Ein Kampf der  historisch stark vom Lager der Sowjetunion geprägt war.[22] Im strategischen Ziel das Gewaltmonopol von USA und NATO zu brechen überschneiden sich die Ansätze. Doch die konkreten Bedingungen einer gerechten Weltordnung bleiben durch dieses höchst bescheidene Zwischenziel einer multipolaren Weltordnung vollkommen offen.

 

Fazit

„Schließen wir mit einem Plädoyer, den Menschen, den sozialen Bewegungen und den Regierungen im globalen Süden den Gebrauch der Grenze im eigenen Interesse zu gestatten. Dies heißt nicht mehr und nicht weniger als ein Ende der Einmischungen, die einen selbstbestimmten Gebrauch verunmöglichen, zu fordern und zu fördern.“  - Andrea Komlosy, Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitverlauf.

Geht es unmittelbar darum dem transnationalen Kapital und dem Gewaltmonopol von USA und NATO selbstbewusst Grenzen aufzuzeigen, so geht das effektiv nur in jenem Rahmen in dem es eine konkrete Handhabe dafür gibt, also im Rahmen der Nation. Umgekehrt bedeutete das aber auch die Souveränität jener Völker zu achten, die sich weder dem einen noch dem anderen Gewaltmonopol unterordnen wollen. Eine komplette Rücknahme der Globalisierung bzw. einen Rückzug auf die Insel der Seligen ist allerdings unmöglich. Die globale Arbeitsteilung lässt sich – bei allen Chancen einer selbstbestimmten Reindustrialisierung – auch mit dem Niedergang der US-Hegemonie weder aufheben noch ignorieren. Es braucht also eine laufende gemeinsame Verständigung darüber wie ein hohes Maß an Produktivität beibehalten werden kann, während das bestehende System der Güterdistribution verändert wird. Eine gerechte Weltordnung verlangt die Reintegration von politischen und ökonomischen Entscheidungen in einen ganzheitlichen demokratischen Prozess. Dieser hat notwendigerweise sowohl eine nationale als auch eine internationale Dimension.[23]


 

[1]     Weiterführende Literatur: Andrea Komlosy, Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitverlauf. Kapitel: 1.2. Stadtstaaten und Imperien (bis ins 13. Jahrhundert).

[2]      „Die kleineren Stadtstaaten konnten den Zugriff auf ihr Territorium und ihre Untertanen hingegen straffer und eindeutiger organisieren. Grundsätzlich kämpfte jede Zentralmacht mit adeligen Geschäftsträgern, die Verteidigung und Steuereinhebung organisierten und, je ferner sie vom Zentrum waren, eine Tendenz zur Verselbständigung aufwiesen. Dementsprechend war die Staatsmacht entweder zentralistisch geregelt und hielt den Adel kurz, oder sie räumte dem Adel mehr dezentrale Eigenmacht ein, sodass der Zugriff auf Untertanen und Ressourcen stärker mediatisiert war.“ Komlosy, Grenzen, Kapitel: 1.2. Stadtstaaten und Imperien (bis ins 13. Jahrhundert).

[3]     Zu Gewaltmonopolen und der Herausbildung von „slaving zones“ und „no-slaving zones“: Jeffrey Fynn-Paul, Empire, Monotheism and Slavery in the Greater Mediterranian Region from Antiquaty to Early Modern Era. In: Past & Present 205 (2009) 3-40. Zum Frontier Regionen und insbesondere Südrussland: Hans-Heinrich Nolte, Deutsche Ostgrenze, russische Südgrenze, amerikanische Westgrenze. Zur Radikalisierung der Grenzen in der Neuzeit. In: Joachim Becker, Andrea Komlosy (Hg.), Grenzen Weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich (Wien 2004) 55-74.

[4]     „Flüchtlinge und ArmutsmigrantInnen sind in den allermeisten Fällen Menschen, die zu Hause fehlen. Konfliktlösung bedeutet, für ihre sichere Rückkehr in die Heimat zu sorgen.“ Komlosy, Grenzen, Kapitel:Vom Gebrauch der Grenze: Rückblick und Ausblick.

[5]     Doch bis zur Entstehung des modernen Weltsystems vor etwa 500 Jahren waren solche Weltwirtschaften selten und ausgesprochen instabil. Tendenziell entstanden aus ihnen wieder imperiale Tributsysteme oder sie lösten sich ganz auf. Imman Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century Bd.1 (Berkley 2011) 348. 

[6]     Umkämpft waren insbesondere die reichen norditalienischen und niederländischen Handelsstädte auf die sowohl das spanische Weltreich als auch seine kleineren aber straffer organisierten Herausforderer Frankreich und England angewiesen waren. Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 165-186.

[7]     Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 174, 186, 187, 199.

[8]     Das Argument für die Fuggern als Monopolkapitalisten im Bund mit den Habsburgern macht: Adolf Laube, Die Herausbildung von Elementen einer Handels- und Manufakturbourgeoisie und deren Rolle in der deutschen frühbürgerlichen Revolution. In: Max Steinmetz (Hg.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland (Berlin 1985) 250-266. Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 176. Zur Wechselwirkung zwischen politischer Gewalt und der Monopolisierung von Erwerbschancen im Handwerk: Jan Luiten van Zanden, The skill premium and the „Great Divergence“. In: European Review of Economic History 13 (2009) 121-123. Sheilagh Ogilvie, The European Guilds. An Economic Analysis (Princeton 2019).

[9]     Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 184, 201. 

[10]   Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 211-214. Zur Entwicklung Lohnentwicklung in Europa: Robert Allen, The Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War, In: Explorations in Economic History 38 (2001) 411-447. Zur globalen Arbeitsteilung im 16. und 17. Jahrhundert: Andrea Komlosy, Arbeit: Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert (Wien 2014) 105-120. 

[11]   Patrick O‘Brien, Mercantilism and Imperialism in the Rise and Decline of the Dutch and British Economies 1585-1815. In: De Economist 148, H.4 (2000) 469-501.

[12]   Auch hinsichtlich den Bestrebungen im Rahmen der österreichischen Herrschaft eine koloniale Infrastruktur zu schaffen stellte sich die Frage wer dafür zahlen soll: Walter Sauer, Schwarz-Gelb in Afrika. Habsburgermonarchie und die koloniele Frage. In: Walter Sauer (Hg.), k. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika (Wien 2002) 17-78. 

[13]   „if there is to to be a multitude of political entities (that is, if the system is not a world-empire), then it cannot be the case that all these entities be equally strong. For if they were, they would be in the position of blocking the effective operation of transnational economic entities whose locus were in another state. It would then follow that the world division of labor would impede, the world-economy decline, and eventually the world-system fall apart.“ Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 355.

[14]   https://amerika21.de/2023/05/263833/gustavo-petro-ueber-ukraine-krieg?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

[15]   „Capitalist economic organizaion had come to exist on a large enough scale, with penetration of its price system deeply enough into the production structure in agriculture as well as in the market for family labor, so the opportunities for immediate profit became evident in invention as well as in trade, exploration, and resource discovery. These opportunities altered industrial organization so that invention moved in to resolve bottlenecks even faster than capitalists and labourers could do so themselves. Moreover, this was occurring on a large enogh scale, and over a wide enough industrial terrain, with sufficient communication among inventors and with sufficient knowlage of invenstment opportunities that a self-reinforcing process of technical change was set in motion.“ William N. Parker, Europe, America, and the Wider World. Essays on the Economic History of Western Capitalism. Europe and the World Economy Bd 1. (Cambridge 1984) 205.

[16]   Komlosy, Grenzen, Kapitel:Vom Gebrauch der Grenze: Rückblick und Ausblick.

[17]   Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 349.

[18]   Komlosy, Grenzen, Kapitel:Vom Gebrauch der Grenze: Rückblick und Ausblick.

[19]   https://www.telepolis.de/features/De-Dollarisierung-Wie-nah-ist-der-monetaere-Machtwechsel-8989229.html

[20]   Komlosy, Grenzen, Kapitel:

[21]   Immanuel Wallerstein, Die Konstruktion von Völkern: Rassissmus, Nationalismus, Ethnizität. In: Immanuel Wallerstein und Etienne Baibar, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (Hamburg-Berlin 1992) 87-106, hier.

[22]   https://www.rotefahne.at/post/geteiltes-leid-ist-halbes-leid-%C3%BCber-die-theorie-der-multipolaren-weltordnung

[23]   Wallerstein, Modern World-System Bd. 1, 348.